Blogparade #4: Ein Pauker-Schlag oder auch: Welche Lehrer haben mich beeindruckt?

Vorbemerkung: Eine Reihe von bildungsaffinen Bloggern hat sich zum Ziel gesetzt, 2024 häufiger thematisch gemeinsam zu bloggen. Die Themenvorschläge werden an dieser Stelle gesammelt, alle Beiträge zum aktuellen Thema werden unter dem Beitrag gesammelt. Die Wahl zum Thema Nummer 4 wurde diesmal von Herrn Mess organisiert.

Praevia notatio1: Nonnulli bloggers educationis actis relatas propositum seipsos contexendi in argumentis pluribus 2024 frequentius collocarunt. Argumenta suggestiones hic colliguntur omnes contributiones ad thema currens sub articulo colligentur. Hoc tempore comitia pro argumento numero 4 constituto a Magistro Mess.

Das erste Vorbild

Der erste Lehrer, der mich beeindruckt und im Wesentlichen mein Bild vom „Lehrersein“ geprägt hat, war mein Großvater, den ich leider nur kurz kennengelernt habe. Er war Volkschullehrer in den 50er Jahren an einer kleinen Schule in einem sehr kleinen Ort in Nordrhein-Westfalen. Er konnte Geige spielen, wunderschön zeichnen, kannte die Pilze, Pflanzen und Vögel, denen wir begegneten, und wusste einfach alles. Zumindest schien es mir so. Das, was ich heute aus Erzählungen und der Schulchronik weiß, nötigt mir zusätzlich zur kindlichen Begeisterung einiges an Respekt ab.

Er begann, erst vertrieben, dann aus der DDR geflohen, als Schulleiter und einziger Lehrer an einer einklassigen Dorfschule mit 77 Kindern in den Jahrgängen 1 bis 8, die er alle gleichzeitig in einem Raum unterrichtete. Als endlich eine zweite Lehrkraft eingestellt werden konnte, wurde in diesem Raum „Schichtunterricht“ organisiert. Da sich die räumliche Lage sechs Jahre später noch immer nicht verbessert hatte und die zuständige Kreisstadt keine der vorgelegten Übergangslösungen (Ausbau des Dachbodens, Anmietung eines zusätzlichen Raumes z. B. in der Gaststätte oder der ortsansässigen Torffabrik), geschweige denn einen Neubau unterstützte, organisierten Eltern und die beiden Lehrkräfte einen (natürlich rechtswidrigen) Schulstreik, der letztlich aber den gewünschten Erfolg brachte. Als die alte Schule dann irgendwann abgerissen wurde, um Platz für eine Autobahn zu schaffen, rettete mein Vater einige Bücher der Lehrerbibliothek aus dem Müll, die er mir für mein Studium mitgab, sodass ich noch über viele Anmerkungen meines Großvaters in den kleinen Lektüren nachdenken konnte.

Die eigene Schulzeit

Aus meiner eigenen Schulzeit am Gymnasium sind mir viele Lehrer*innen eindrücklich in Erinnerung geblieben. Es herrschte eine allgemeine Aufbruchsstimmung. Wir waren der zweite Jahrgang an unserem Gymnasium, der koedukativ2 unterrichtet wurde, der zweite Jahrgang, der mit einer reformierten Oberstufe im Kurssystem Abitur machte. Wir waren gegen Atomkraft (verboten), trugen lila Latzhosen (erlaubt) und unser Gemeinschaftskundelehrer war fast nie da, weil er „die Grünen“ mitbegründete, die damals noch „Grüne Liste Umweltschutz“ hieß. Das Kollegium bewegte sich zwischen einem letzten Kriegsveteran und vielen 68er-bewegten Junglehrern und -lehrerinnen.

Und dann war da der Mathelehrer, der „strengste Lehrer der Schule“, der zwischen Kolleg*innen in Birkenstock und Jeans jeden Tag im Anzug zur Schule kam. Er wahrte eine professionelle Distanz zu uns Schüler*innen, dem erzählte man nicht seine Probleme. Mit ihm diskutierte man auch nicht, weil es nichts zu diskutieren gab. Er kam immer ausgezeichnet vorbereitet in die Stunde, füllte den Raum mit seiner Präsenz, führte seinen Unterricht durch, sehr frontal, ohne Zeitverschwendung, ohne didaktische Zaubereien, aber klar, strukturiert und anspruchsvoll und so (zumindest für mich) hochinteressant. Wir waren da allerdings schon in der 10. Klasse.

Und er war fair. Während wir in allen anderen Fächern vor den Klassenarbeiten schwitzten, ob wir alles Nötige gelernt hatten, und danach unsicher waren, wie das Ergebnis aussehen würde, wussten wir bei ihm genau, was wir können müssten, und man kam nie aus der Klausur mit dem Gefühl, mit einer Frage „hereingelegt“ worden zu sein. Die Bepunktung musste man nicht diskutieren, alles war offensichtlich und am Ende (natürlich) richtig aufaddiert. Wenn ich ihn mit einem Wort beschreiben müsste, würde ich vielleicht „korrekt“ wählen.

Aber da war noch die eine Sache….

In Klasse 10 stehen die trigonometrischen Funktionen auf dem Lehrplan. Zwar gab es einige OHPs an der Schule, die aber das Bild entsetzlich verzerrten. Unser Mathematikunterricht fand also mit Tafel und Kreide statt. Jede Stunde mussten Sinus- und Kosinuskurven an die Tafel gezaubert werden, oft von 2 Metern Länge. Er malte sie freihand und sie waren perfekt.

Immer.

Alle.

Ein Miraculum!

Wir übten in Pausen, in Freistunden, wann immer wir eine Tafel benutzen konnten – die Kurven sahen sinusähnlich aus, aber nicht annähernd wie seine! Wir entschieden irgendwann, dass er das wohl jahrzehntelang geübt hatte, und gaben unsere Bemühungen auf. Unsere Bewunderung blieb.

In der Kurs-Oberstufe war er dann mein Tutor und beim allerletzten Treffen wagten wir ihn danach zu fragen, wie man es lernen kann, freihand diese Kurven an die Tafel zu zaubern. „Tja“, meinte er, und ging mit uns in einen Klassenraum. „Wenn man an der Tafel so winzige Punkte macht, können Sie3 das als Schüler nicht sehen. Ich bin jeweils vor Ihnen in der Klasse gewesen und habe die Kurven ausgemessen. Verraten Sie es nicht weiter.“

Vieles von dem, was ich bei diesem Lehrer4 erlebt habe, ist heute nicht mehr „zeitgemäß“, und auch für die Schulstufe, in der ich unterrichte, nicht geeignet. Aber die Grundzüge Fairness, Berechenbarkeit, Professionalität, Genauigkeit, Anspruch an sich selbst und die Schüler*innen sowie die intensive Vorbereitung, die ich bei ihm kennenlernen durfte, halte ich heute auch für meinen Unterricht für erstrebenswert.

Vorbilder aus der Literatur

Wir haben nie darüber gesprochen und ich weiß nicht, warum mir und keinem meiner Geschwister – auf jeden Fall drückte mir mein Vater (nicht Lehrer) mit 14 Jahren das Buch “ Der Weg ins Leben“ von Anton Semjonowitsch Makarenko in die Hand. Diese Art von Schule, die dort beschrieben wird, nistete sich irgendwo tief innen ein und die reale Schule musste sich daran messen lassen – erst meine Schule und der Unterricht, den ich erlebte, dann der Unterricht, den meine Kinder erlebten und erlitten. Irgendwann stand dann fest, dass ich doch noch einmal „auf Lehramt“ studiere und mein Vater teilte seinen Bücherschrank mit mir. Neben den eher theorielastigen Büchern, die mir die Uni vorschrieb ans Herz legte, las ich nun die Autobiografien (und Arbeiten) engagierter Pädagog*innen. Aus ihren offenen Berichten mit Zweifeln und Misserfolgen, ihren Überlegungen und den gelungenen Umsetzungen, aber auch dem Scheitern habe ich viel für mich und meinen Unterricht mitnehmen können. Aus der Leseliste:

  • Leo Tolstoj: Die Schule von Jasnaja Poljana
  • Anton S. Makarenko: Der Weg ins Leben
  • Alfred Ehrentreich: Pädagogische Odyssee
  • Else Müller-Petersen: Kleine Anleitung zur Pädagogischen Tatsachenforschung und ihrer Verwendung
  • Peter Petersen: Schulleben und Unterricht einer freien und allgemeinen Volksschule nach den Grundsätzen neuer Erziehung
  • Bernd Dühlmeier: Und die Schule bewegte sich doch

Und hier gibt es noch mehr Beiträge zu diesem Thema:

  1. Eine kleine Verbeugung vor Herrn Mess, dem einzigen Blogger, den ich kenne, bei dem ich mich bei den Cookies zwischen „Accipio“ und „Nego“ entscheiden muss ↩︎
  2. Für die jüngeren unter den Leser*innen: Davor gab es getrennte Gymnasien für Jungen und Mädchen, nun lernten wir in gemischten Klassen. ↩︎
  3. Wir wurden damals ab Klasse 10 mit Vornamen und „Sie“ angesprochen und fühlten uns sehr erwachsen. ↩︎
  4. Als ich eben zur Recherche und aus Nostalgie noch einmal auf der Webseite meiner ehemaligen Schule war, stieß ich auf eine mir bis dahin unbekannte Neuigkeit. Einige Zeit nach seinem Ausscheiden aus dem Schuldienst hat er eine Stiftung ins Leben gerufen, die das Ziel verfolgt, besondere Leistungen von Schüler*innen dieser, „seiner“ Schule zu würdigen und sie zu fördern. ↩︎
4 Kommentare
  1. susanne sagte:

    Die Idee, dass man auch von Lehrerpersönlichkeiten aus der Literatur beeindruckt und beeinflusst worden sein konnte, finde ich spannend. Ich war auch im Studium eine Leserin pädagogischer Schriften (und bin es ehrlich gesagt heute noch). Gerade die Ideen der reformpädagogischen Bewegung finde ich spannend, aber auch „Klassiker“ wie Klafki. Danke für diesen Beitrag!

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